L e s e p r o b e
Zur Erklärung / Einleitung: Der nun folgende Text galt als Vorlage einer öffentlichen Lesung. Der Erzähler war/ist der Autor Stephan Kessler, der in den Text einführte und die Überleitungen sprach. Es wird hier also nicht ausschließlich Text wiedergegeben, wie er auch in der Veröffentlichung zu finden ist. Die Endnoten im Text bzw. ganz unten stehen jeweils auch in der Veröffentlichung.

Mein Vater, Dr. Ernst Viktor Kessler, war zugegen, als Pater Alfred Delp S. J. am 28. Juli 1944 – nach dem gescheiterten Putschversuch vom 20. Juli 1944 – nach der Morgenmesse in der Kirche St. Georg (Pfarrei Heilig Blut, München-Bogenhausen) verhaftet wurde.

Er schreibt in seinem Aufsatz „Zur Erinnerung…“ am 24. 1. 19671, Pater Delp habe auf Geheimlisten gestanden, die die Gestapo nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 gefunden habe. Ernst Viktor Kessler weiter:

Buchtext Seite 70 unten bis Seite 71 Mitte:

„Am Morgen des 28. Juli 1944 kam ich kurz nach ½ 8 Uhr in die St. Georgs-Kirche. Delp hatte schon mit der heiligen Messe begonnen. Damals war ich Leiter der Rechtsabteilung eines Großunternehmens, das seinen Sitz in München hat. Von unseren Berliner Freunden erhielt ich über Fernschreiber wichtige Nachrichten, die mit juristischen Ausdrücken verschlüsselt waren. Spät am Abend des 27. Juli war aus Berlin die verschlüsselte Nachricht gekommen, Delp solle sich am 29. Juli nachmittags bei München mit einem wichtigen Manne (sic!) treffen, der über die Lage nach dem Attentat Maßgebliches mitzuteilen und wichtige Aufträge habe. In Berlin werde schnellstmögliche Rückantwort erwartet.“

Kessler in dem genannten Aufsatz weiter:

„Weil ich verspätet in die Kirche kam und sofort weitermußte, wußte ich nicht, wie ich diese Nachricht Delp überbringen und sofort eine Antwort erhalten sollte.“ Er sei in die Sakristei gegangen, erzählt er. Dort sei „die Vinzentinerin“ gewesen. Er habe die Nachricht auf einen Zettel geschrieben und die Schwester gebeten, „ihn Pater Delp sogleich an den Altar mit der Bitte zu bringen, ihr ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu sagen.“

Die Schwester habe den Zettel genommen, so Kessler, und die Sakristeitüre geöffnet. „In diesem Augenblick“, schreibt Kessler, „sehe und höre ich, wie Delp am Altar mit erhobenen Händen das Gebet der Opferung betet: ‚Suscipe, sancte Pater …‘. Mich ergriff die heilige Handlung und die Scham, die heilige Messe, durch eine, wenn auch noch so wichtige Nachricht, zu stören.“ So habe er, fährt Kessler fort, die Schwester in der schon geöffneten Sakristeitüre zurückgehalten und sie gebeten, ihm nach der heiligen Messe den Zettel zu übergeben.

Er konnte nicht ahnen, setzt Ernst Viktor Kessler seine Erzählung fort, „daß zwei Gestapobeamte in Zivil bereits seit Beginn der Messe in der letzten Bank der Kirche standen, um Delp zu verhaften. Einer von beiden war ein früherer Klassenkamerad von Delp. Die Gestapo wollte sicher gehen, den Richtigen zu fassen.“ Um Aufsehen in der mit Gläubigen gefüllten Kirche zu vermeiden, hätten sie abgewartet, ergänzt Ernst Viktor Kessler, bis Delp die Messe gelesen hätte und hätten ihn dann in der gleichen Sakristei verhaftet, die er, Kessler, nicht lange vorher unbehelligt verlassen hätte. „Die Schwester hatte Delp unmittelbar vor seiner Verhaftung“, schreibt Kessler, „als er vom Altar in die Sakristei kam, meinen Zettel gegeben. Er hat ihn, wie die Schwester mir am Abend berichtete, geistesgegenwärtig auf dem Weg von der Sakristei hier ins Pfarrhaus aufgegessen.“

Ende des Buchtextes.

Pater Delp wurde verhaftet, als er nach dem Gottesdienst aus der Sakristei ins Freie gekommen war. Er wurde am 2. Februar 1945, nachdem der Volksgerichtshof ihn zum Tode durch den Strang verurteilt hatte, in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Zehn Tage vorher erfuhr Delp von der Geburt meines Bruders Alfred Sebastian, seinem zugedachten Patenkind. Dazu äußert sich Ernst Viktor Kessler in dem Manuskript einer Rundfunksendung des Bayerischen Rundfunks von 1984 mit dem Titel „Dem Leben trauen…“:2

Buchtext Seite 72 Mitte bis Seite 73 unten:

„Unsere Freundschaft führte dazu, daß ich Pater Delp bat, die Patenschaft über unser viertes Kind zu übernehmen. Dieses war im April 1944, als niemand Pater Delps zukünftige Verhaftung und seine Hinrichtung ahnen konnte. Es kam, wenn ich so sagen darf, zu einem Wettlauf zwischen der Geburt unseres Alfred, der seinen Namen nach seinem Paten trägt, und der Hinrichtung Delps. Alfred wurde am 13. Januar 1945 geboren. Es gelang, die Geburtsnachricht durch Kassiber Pater Delp ins Gefängnis einzuschmuggeln. Er erhielt die Geburtsnachricht am 23. Januar 1945, also zehn Tage vor seiner Hinrichtung am 2. Februar 1945. Pater Delp schrieb noch am 23. Februar den erschütternden, oftmals veröffentlichten Brief an sein Patenkind Alfred Sebastian, den wir erst nach Delps Tod erhielten. Freunde von Delp sagen, daß er in diesem Brief sich selbst dargestellt hat.“

„P. DELP AN SEIN PATENKIND:

23. Januar 1945
Lieber Alfred Sebastian,

als große Freude und Ermutigung erhielt ich heute die Nachricht von Deiner Geburt. Ich habe Dir gleich mit meinen gebundenen Händen einen kräftigen Segen geschickt, und da ich nicht weiß, ob ich Dich im Leben je sehen werde, will ich Dir diesen Brief schreiben, von dem ich aber auch nicht weiß, ob er je zu Dir kommen wird.

Du hast Dir für den Anfang Deines Lebens eine harte Zeit ausgesucht. Aber das macht nichts. Ein guter Kerl wird mit allem fertig. Du hast gute Eltern, die werden Dich schon lehren, wie man die Dinge anpackt und meistert.

Und Du hast Dir zwei gute Namen geben lassen. A l f r e d, das war ein König, der für sein Volk viel betete, viel arbeitete und viele harte Kämpfe gewann, die Menschen haben ihn nicht immer verstanden und ihn oft arg bekämpft. Später haben sie erkannt, was er für sein Volk getan hat und haben ihn den Großen geheißen. Das Volk Gottes aber nannte ihn den Heiligen. Vor Gott und vor den Menschen hat er sich bewährt. S e b a s t i a n, das war ein tapferer Offizier des Kaisers und des Herrgotts, da aber der Kaiser von Gott nichts wissen wollte, machte er aus seiner Torheit spitze Pfeile des Hasses und des Mißtrauens und ließ damit seinen Offizier zusammenschießen. Sebastian kam noch einmal zu sich, mit zerschundenem Körper und ungebrochenem Geist. Er hielt dem Kaiser seine Torheit vor, der ihn für seinen Freimut erschlagen ließ. Das aber kannst Du ja überall lesen und Deine Eltern werden es Dir längst erzählt haben, liebes kleines Patenkind. Ich will Dich nur daran erinnern, daß in Deinem Namen eine hohe Pflicht liegt, man trägt seinen Namen würdig und ehrenhaft, mutig und zäh und standhaft mußt Du werden, wenn Deine Namen Wahrheit werden sollen in Deinem Leben.

Ja, mein Lieber, ich möchte Deinem Namen noch eine Last, ein Erbe zufügen. Du trägst ja auch meinen Namen. Und ich möchte, daß Du das verstehst, was ich gewollt habe, wenn wir uns nicht richtig kennenlernen sollten in diesem Leben; das war der Sinn, den ich meinem Leben setzte, besser, der ihm gesetzt wurde: helfen, daß die Menschen nach Gottes Ordnung und in Gottes Freiheit leben und Menschen sein können. Ich wollte helfen und will helfen einen Ausweg zu finden aus der großen Not, in die wir Menschen geraten sind und in der wir das Recht verloren, Menschen zu sein. Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende, ist Mensch und ist frei und lebensfähig. Damit habe ich Dir etwas gesagt, was ich Dir an Einsicht und Aufgabe und Auftrag wünsche.

Lieber Alfred Sebastian, es ist viel, was ein Mensch in seinem Leben leisten muß. Fleisch und Blut allein schaffen es nicht. Wenn ich jetzt in München wäre, würde ich Dich in diesen Tagen taufen, das heißt: ich würde Dich teilhaft machen der göttlichen Würde, zu der wir berufen sind. Die Liebe Gottes, einmal in uns, adelt und wandelt uns. Wir sind von da an mehr als Menschen, die Kraft Gottes steht uns zur Verfügung, Gott selbst lebt unser Leben mit, das soll so bleiben und immer mehr werden, Kind. Daran hängt es auch, ob ein Mensch einen endgültigen Wert hat oder nicht. Und er wird ein wertvoller Mensch werden.

Ich lebe hier auf einem sehr hohen Berg, lieber Alfred Sebastian. Was man so Leben nennt, das ist weit unten, in verschwommener und in verworrener Schwärze. Hier oben treffen sich die menschliche und göttliche Einsamkeit zu ernster Zwiesprache. Man muß helle Augen haben, sonst hält man das Licht hier nicht aus. Man muß gute Lungen haben, sonst bekommt man keinen Atem mehr. Man muß schwindelfrei sein, der einsamen, schmalen Höhe fähig, sonst stürzt man ab und wird ein Opfer der Kleinheit und Tücke. Das sind meine Wünsche für Dein Leben, Alfred Sebastian: helle Augen, gute Lungen und die Fähigkeit, die freie Höhe zu gewinnen und auszuhalten. Das wünsche ich nicht nur Deinem Körper und Deinen äußeren Entwicklungen und Schicksalen, das wünsche ich vielmehr Deinem innersten Selbst, daß Du Dein Leben mit Gott lebst als Mensch in der Anbetung, in der Liebe, im freien Dienst.

Es segne und führe Dich der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.

Dein Patenonkel Alfred Delp

Das habe ich mit gefesselten Händen geschrieben; diese gefesselten Hände vermach’ ich Dir nicht, aber die Freiheit, die die Fesseln trägt und in ihnen sich selbst treu bleibt, die sei Dir schöner und zarter und geborgener geschenkt.“3

1 Ernst Viktor Kessler: „Zur Erinnerung. Paris, den 24. 1. 1967, [Vortrag] vor der deutsch-französischen Gesellschaft in französischer Sprache.“, deutsches maschinenschriftliches Manuskript in Privatbesitz, S. 35, Siehe Anhang

2 Rundfunksendung des Bayerischen Rundfunks vom Sonntag, 17. 6. 1984, 8.00 Uhr bis 8.30 Uhr auf Bayern2: „Ernst Viktor Kessler: ‚Dem Leben trauen. Erinnerungen an Pater Alfred Delp S. J.‘“ von Wolfgang Küpper, Redaktion: Norbert Kutschki. Manuskript zur Sendung des Kirchenfunks. (Siehe Anhang).

3 Ungekürzte Wiedergabe des Delp-Briefes aus: „ALFRED DELP S. J. - Kämpfer - Beter - Zeuge. Letzte Briefe und Beiträge von Freunden“, erschienen 1955 im Morus-Verlag, Berlin, S. 98 – 100. (Der Originalbrief ist verloren gegangen. Anm. d. Verf.)